Vorsicht Satire!

im Herbst 1998 hatte die Deutsche Bahn eine unglückliche Hand bei der Auswahl einer ihrer Werbekampagnen. So war ich "genötigt" zum satirischen Gegenschlag auszuholen. Die von mir so geliebte Bahn hat sich in ein völlig verkehrtes Licht gestellt - das musste richtig gestellt werden. Bei den Bahnkunden wurde dieser Seitenhieb sofort verstanden - die entsprechende Abteilung bei der Deutschen Bahn konnte ihn nicht so recht nachvollziehen.

Die Bahn gehört mittlerweile trotzdem zu meinen Kunden, für die ich aus persönlichem Interesse und Engagement für das System Eisenbahn gerne arbeite - direkt und indirekt. In das allgemeine Gejammer um die Bahn stimme ich nicht mit ein - meine Kritik ist sehr viel spezifischer. Dass ich damit richtig liege, ist an der Politik der Deutschen Bahn im Nachhinein manchmal feststellbar. (Würde man mich doch auch mal vorher fragen...)

Nachfolgend mein Seitenhieb aus dem Jahr 1998, der auch in der Fachpresse abgedruckt war:


Wie werden wir unsere Kunden los?

Erstaunlich wenig Fingerspitzengefühl besaßen die Macher der Werbekampagne für die sogenannten "Intercity-Lounges" und ähnliche neue Einrichtungen bei der Deutschen Bahn. Vermutlich fahren diese lieber mit flotten Kabrios über die Straße, als jemals einen Fuß in die real existierende Welt des öffentlichen Nahverkehrs der Deutschen Bahn zu setzen. Sie hätten sonst, wenn sie gute Art-Direktoren oder Kommunikationskoriphäen wären, sicher gemerkt, daß man mit solchen flotten Sprüchen die Reisenden eher vergrault als anlockt. Wer fühlte sich Ende des Sommers nicht verschaukelt, als er die vornehmen Plakate und Anzeigen der DB-AG sah?

realitätsfremde Werbung machte die DB-AG

Ganz spontan, ohne großartiges Brainstorming oder große Equipe an Werbefachleuten habe ich mit vorhandenen Fotos (!) auf folgenden "Plakaten" eine Kampagne entwickelt, die der Realität sehr viel näher kommt:


48k
77k
45k
Warten auf Godot?...
Bergwerk in Sibirien?...
Glücksrad? Der große Preis?...

65k
54k
Sagrotan
64k
Die Slums von Rio?..
Titanic? Raumstation Mir?..
Sagrotan-Testgelände...

61k
So sieht ein DB-Plakat in der real-existierenden Bahn-Welt aus!

alle Fotos © Daniel Saarbourg

Achtung! Diese "Anzeigen" gibt es als Postkarten

erhältlich bei: Daniel Saarbourg, Lauergasse 16, 76275 Ettlingen


Bitte senden Sie mir:

Karten "Slums von Rio..."

Karten "Titanic..."

Karten "Bergwerk in Sibirien..."

Karten "Glücksrad..."

Karten "Warten auf Godot..."

Karten "Sagrotan-Testgelände" (Text auf der Karte verändert: Legebatterie...)

Karten Sets a 6 Karten (1,25 Euro)

Name:

Straße

Postleitzahl, Ort

Mailadresse:

Telefon für Rückfragen:

Den Preis von 25 Euro-Cent pro Karte (1,25 Euro für ein ganzes Set mit 6 Karten) plus 2 Euro Versandkosten habe ich auf das Konto: 242 021 913 Bezirkssparkasse Gießen BLZ 513 500 25 überwiesen. Der Versand erfolgt nach Geldeingang.


Folgenden Brief mit beiliegenden Plakaten schickte ich an die Bahn AG und einige Fachpresseorgane:

Zunächst: Ich bin ein passionierter Bahn-Reisender, den so leicht nichts schreckt und der sämtliche Freunde zur Benutzung der Bahn nötigt. Auch war ich eine Zeitlang im öffentlichen Schienenpersonennahverkehr als Triebfahrzeugführer tätig.

Die breit plakatierte "Lounge-Kampagne" der DB hat mich jedoch so sehr geärgert, daß ich mich zum kreativ-satirischen "Gegenschlag" genötigt sah. Ohne größeres Brainstorming und ohne lange herumzusuchen habe ich die Text-Bild-Kompositionen zusammengestellt.

Wenn sich nicht über 50% der DB-Anlagen in solchem oder ähnlichen Zustand wie in der DB-Werbung dargestellt befinden, und lange nicht die Hälfte der Reisenden, nicht einmal zufällig, an einer "Lounge" vorbeikommt, ist eine solche Werbung ärgerlich.

Ich fühle mich ver...t! Eine Persiflage der DB-Kampagne drängt sich nahezu auf! Ich habe nichts dagegen, wenn für die 1. Klasse spezielle Wartesäle eingerichtet werden, auch nehme ich der DB-AG den Stolz auf diese Anlagen ohne weiteres ab. Aber die meisten, die an diesen Plakaten vorbeifahren und gehen, fragen sich, ob sie im falschen Zug sitzen oder ob es noch eine andere, schönere DB gibt. Sie sitzen in immer noch klapprigen, vielfach notdürftig reparierten Fahrzeugen, warten auf zugigen und dreckigen Bahnsteigen (auf die es zu allem Überfluß auch noch durchs Dach regnet) und steigen durch dunkle Unterführungen mit Pissoir-Düften oder Bergwerks-Ambiente in ihre Anschlußzüge um.

Es werden höchstens 3-5 Prozent der Fahrgäste als potentielle Lounge-Nutzer mit dieser großen Werbeaktion (allein in Gießen am Bahnhof mindestens 6 Plakate) beworben. Die restlichen 95-97% quälen sich tagtäglich mit immer wieder gerade noch so hingenommenen Fehlern und Unannehmlichkeiten - oder steigen um auf die eigenen vier Räder.

Übrigens: was nützt mir eine Intercity-Lounge, wenn ich zu Hause keinen Bahnanschluß mehr habe.

Schön, daß diese Bahn kommt. Wir kennen sie noch nicht. Aber so lange sie noch nicht spürbar anwesend ist, ist eine solche Werbung ein Schlag ins Gesicht. Die Bahn, die wir kennen, ist schon (zu lange) da!


Die Fachpresse (FAIRKEHR, EISENBAHN-KURIER, PAGE u.a. ) reagierte sofort und druckte einige Motive ab. Die Bahn antwortete nach einem Monat:

... Selbstverständlich ist uns bewußt, daß die in unserer "Lounge Kampagne" dargestellten Objekte sich zum heutigen Tage noch nicht mit der Realität auf deutschen Bahnhöfen decken. Allerdings werden doch gerade Sie als treuer Bahnkunde mit Freude vernehmen, daß die Deutsche Bahn AG sich zum Ziel gesetzt hat, eben diese Vision in den nächsten Jahren wahr werden zu lassen. Mit den ersten 26 Bau und Umbauvorhaben wurde bereits begonnen. Außerdem halten wir es nicht für verwerflich, eine Werbekampagne dieser Art zu führen, da es in der heutigen Kommunikations- und Medienlandschaft üblich ist, noch nicht realisierte Produkte, also detailliert geplante Visionen, zu vermarkten. Die Intention der Deutschen Bahn AG ist eindeutig. Modern, zukunftsorientiert, innovativ und visionär sind Begriffe, die durch diese Kampagne dem Kunden vermittelt werden sollen ...


Meine Antwort darauf:

Diese Antwort läßt vermuten, daß die Mitarbeiter bei der DB AG mein Hauptanliegen entweder nicht verstehen wollen oder es nicht verstehen können! Wenn dringendere Ziele als die angepriesenen, nämlich saubere Bahnhöfe, vandalismusresistente und freundliche Haltepunkte, moderne, bequeme und pünktliche Züge, dichte Fahrpläne und gute Anschlüsse sowie kundenfreundliche Tarife etc. noch lange nicht erreicht sind, dann interessieren einen solche einsamen Highlights (wie die beworbenen Lounges etc.) überhaupt nicht! Die vielen Jahre, die die Deutsche Bundesbahn (vermutlich politisch so gewollt) verschlafen hat, sind nicht mit 26 begonnenen Aus- und Umbauvorhaben auszugleichen. So viele Umbauvorhaben, wie nötig wären, könnte keiner aufzählen! Die wenigen potentiellen Fahrgäste, die mit dieser Kampagne geworben wurden, werden versuchen, schon bei der Rückfahrt die Konkurrenz aufzusuchen.

Ich halte solch eine Kampagne eben wohl für verwerflich. Die Mitarbeiter der Deutschen Bahn haben offensichtlich nicht beobachtet, wie in der heutigen Kommunikations- und Medienlandschaft üblicherweise geworben wird. Wenn z.B. die Firmen Daimler-Benz oder Volkswagen ein Projekt der Zukunft vorstellen, brauchen sie den Vergleich mit anderen Marken nicht zu scheuen. Die Bahn aber bietet immer noch auf vielen Strecken einen Komfort an, mit dem sich ein Trabant messen könnte - zu einem Preis, der einen BMW oder Mercedes wert wäre. Von den Fahrplänen ganz zu schweigen. (Stellen Sie sich mal die Firma Sachsenring (Trabant) vor, die 26 Prototypen der Daimler-Benz-Klasse gebaut hat und damit Werbung macht! Es kann sich nur keiner eines kaufen.)

Als ebenfalls in der Kommunikationsbranche Tätiger, würde ich für die kommunikative Umsetzung der Begriffe "Modern, zukunftsorientiert, innovativ und visionär" eine glatte "sechs" verpassen. Diese Begriffe sind m.E. nämlich vor einer Kampagne in die Tat umzusetzen!

Ich will nicht verschweigen, daß ein Bemühen um Kunden zu erkennen ist. Das Personal ist freundlicher geworden, die Fahrpläne wurden an manchen Stellen leicht verbessert. Aber so gut, daß eine solche Kampagne ihr Ziel erreicht, ist die Bahn noch lange nicht.


Auf diesen Brief habe ich leider noch keine Antwort bekommen

Daniel Saarbourg